Meine Frau behauptet, ich hätte die Reisekrankheit. Andere sagen das zwar nicht, denken es aber wahrscheinlich. Tatsächlich habe ich einen unwiderstehlichen Drang in die Ferne. Es ist die Neugier auf alles, was ich noch nicht kenne. Neugier auf Landschaften, auf Städte, Baudenkmäler, auf Tiere, Pflanzenu nd Menschen. Wie lebt man in anderen Ländern, welche Lebensgewohnheiten, Produktionsweisen, Verkehrsmittel, Religionen, Bräuche, Tänze, Musik werde ich dortvorfinden? Kann die Gier auf Neues eine Krankheit sein? Wenn ja, ist sie heilbar? Möchte ich überhaupt geheilt werden?
Auf einer Wanderung in den Alpen sahen wir ein Schild an einer Bank. Darauf stand. „Herr XY hat 70 mal seinen Urlaub in dieser Gemeinde verbracht“. Ich war richtig erschrocken. Er hat also vermutlich mehrmals im Jahr seinen Urlaub in der gleichen Pension in diesem schönen Hochtal verbracht. Er kannte jeden Stein in der Umgebung, er kannte die Familiengeschichte und die Krankheiten seiner Wirtsleute, er wusste, wo es den besten Kaffee gibt. Er hat aber keine Zeit gehabt, sich die Welt anzuschauen. Möchte ich mit ihm tauschen? Nein und nochmals nein. Da liebe ich doch meine Reisekrankheit.
In meiner Patientenakte würde wohl ungefähr folgendes stehen:
Wolf Beyer ist unheilbar von der Reisekrankheit befallen. Mehrmals im Jahr zieht es ihn unwiderstehlich in die Ferne. Er hält es nicht länger als 3 Monate am Heimatort aus.
Für die strategische Planung hat er sich sogar eine Weltkarte und eine Karte von Europa in seine Wohnung gehängt, wo alle bisherigen Reiseziele mit einem Punkt vermerkt sind. So kann er auf einen Blick erkennen, wo potentielle Gebiete sind, die er noch erkunden muss.
Er führt eine Statistik, aus der hervorgeht, dass er bisher 49 Länder bereist hat, davon 28 in Europa, 10 in Asien, 4 in Afrika, 6 in Amerika und 1 in Ozeanien. Es ist auch vermerkt, dass er sich 1.118 Urlaubstage, also etwa 3 Jahre, im Ausland aufgehalten hat. Die Befriedigung, die er bei solchen Statistiken empfindet, deutet auf gewisse psychische Störungen hin.
Was seine künftigen Reiseziele betrifft hat er jeden Realitätssinn verloren. Beispielsweise möchte er sämtliche Weltkulturerbestätten besuchen. Er blendet dabei aus, dass es inzwischen mehr als 1.000 davon gibt und er bisher nur 170 kennengelernt hat. Außerdem kommen jährlich 20 bis 30 hinzu. Das ist etwa die Zahl, die er im Jahr bestenfalls schaffen kann.
Eine Aussicht auf Heilung seiner Reisekrankheit besteht nicht. Allerdings werden biologische Gründe den Krankheitsverlauf mildern und eines Tages abrupt beenden.
Andererseits hebe ich auch Zielstellungen, die realistischer sind. So habe ich mir vorgenom-men, alle 7 Weltwunder der Neuzeit zu besuchen.
Bisher haben wir 6 davon geschafft:
– die Mayastadt Chichen Itza in Mexiko
– die chinesische Mauer
– das Kolosseum in Rom
– die Inkastadt Machu Picchu in Peru
– die Felsenstadt Petra, Jordanien
– der Taj Mahaj in Indien
Nun fehlt nur noch die Christus-Statue in Rio de Janeiro.
Da ich gerne fotografiere, entstehen auf jeder Reise eine Menge Bilder, die ich in vielen Fällen zu Reisepräsentationen verarbeite. So kann ich auch andere an den Reiseerlebnissen teilhaben lassen.
Die öffentlichen Vorträge führen dazu, dass ich mich immer wieder mit den Reisen beschäftigen muss und so die Erinnerungen wach halte. Es ist jedenfalls eine angenehme Freizeitbeschäftigung im Alter, die mir viel Freude bereitet. Ich hoffe, dass meine liebe Frau auch künftig alle meine Reisepläne wie bisher akzeptiert und klaglos mit mir um den Globus reist.